Kreisstadt Siegburg
siegburgaktuell
vom 08.11.2008

Vor 70 Jahren: Pogromnacht und Judenverfolgung in Siegburg

Zeitzeuge Willi Cöllen erinnert sich


Das Bild zeigt Willi Cöllen
Siegburg. Es ist der Vormittag des 10. November 1938, ein Donnerstag: Die Feuerwehrsirenen heulen in Siegburg. In den Stunden der nächtlichen Dunkelheit zuvor hat sich der nationalsozialistische Terror auch in der Kreisstadt öffentlich Bahn gebrochen, der braune Mob wütet in den Straßen, stürmt jüdische Geschäfte und Wohnungen, demoliert und verwüstet sie, misshandelt die Bewohner. Zahllose zerschlagene Scheiben, überall Glasscherben - als "Kristallnacht" bezeichnen die Nazis danach verharmlosend das Pogrom. Offiziell 91 Tote werden landesweit gezählt, 267 zerstörte jüdische Gottes- und Gemeindehäuser und 7.500 verwüstete Geschäfte - in Wirklichkeit lagen die Zahlen weit, weit darüber. Es ist der Auftakt zur organisierten Verfolgung und Vernichtung jüdischer Menschen. All das ahnt an jenem Donnerstagmorgen Willi Cöllen noch nicht. 15 Jahre ist er alt, wohnt mit seinen Eltern in einem Fachwerkhaus in der Burggasse. Neugierig läuft der Junge auf die Straße, hört von den Nachbarn: Die jüdische Synagoge in der Holzgasse brenne. Von der Ankergasse aus erhofft sich der Jugendliche freien Blick auf das jüdische Gebetshaus. Er erkennt das Dach der Synagoge, sieht kein Feuer und keinen Rauch. Flugs klettert er auf die Reste der alten Stadtmauer, hat bessere Sicht. Die Synagoge brennt im Innern. Die Sirenen ersterben, zwei Feuerleute kommen um die Ecke, ziehen Schläuche hinter sich her, doch rücken sie nicht zum Brandherd vor. Nur die Außenmauer wird angespritzt, "unfassbar", denkt der Jugendliche. Cöllen: "Sie hätten reinhalten müssen mit dem Schlauch. Das haben sie nicht getan. Die haben nur von außen abgekühlt." Wie überall in jenen Stunden rettet die Feuerwehr nicht, sondern verhindert allein das weitere Übergreifen der Flammen. Der heute 85-jährige Sohn der damaligen bekannten Siegburger Familie des Obst- und Gemüsehändlers Cöllen auf dem Markt erinnert sich an Geschäfte, die in der Nacht zuvor zerstört wurden: "Die gesamte City, insbesondere der Bereich zwischen Burgasse und Kaiserstraße, glich einem Trümmerfeld. Überall zersplitterte Schaufensterscheiben": Ein Glassplitter-Meer, vor und hinter den Auslagen der jüdischen Geschäfte. Das Damenbekleidungshaus "Alzberg" in der Bahnhofstraße, das Herrenbekleidungshaus "Wagner" am Markt etwa, ein Geschäft auf der Ankergasse, Hambuch und das Hutgeschäft "Fröhlich" in der Kaiserstraße, die "Rhela", viele Geschäfte in der Holzgasse. Die Bevölkerung habe "die Augen verschlossen", in der Schule sei "alles totgeschwiegen" worden. Äußerungen unter Hitlers Regime: Lebensgefährlich. Über den von seiner Mutter unterhaltenen Gemüsestand habe es Kontakte zu jüdischen Familien gegeben, seine Mutter habe 14 Tage in der Mühlenstraße in einem Polizei-Gefängnis im alten Rathaus gesessen, angeschwärzt, weil sie angeblich Blumenkohl zu teuer verkauft habe. Zwei oder drei Tage nach dem November-Pogrom. Cöllen erinnert sich genau: "Ich war auf dem Michaelsberg am Johannestürmchen. Auf der Siegfeldstraße stand ein großes Haus mit großzügigem Flachdach. Darauf versammelten sich etwa 15 Männer, alle in schwarz gekleidet. Das waren die Juden, die zusammengetrieben und dort festgesetzt worden waren." Erst später erfuhr Cöllen, dass diese Männer von der Siegfeldstraße für fünf Tage vermutlich in eine ehemalige Baracke des Arbeitsdienstes transportiert wurden, bevor es von dort weiter in ein Konzentrationslager ging.
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Erschütterndes Zeitdokument in der Dauerausstellung

Abschiedsbrief von Ilse Fröhlich


Das Bild zeigt ein Portrait von Ilse Fröhlich
Siegburg. Ein erschütterndes Zeitdokument: "Wenn ihr diesen Brief bekommt, dann haben Rudi und ich uns erschossen". Mit diesen Worten beginnt der Abschiedsbrief der 20-jährigen Siegburger Jüdin Ilse Fröhlich, die mit ihrem Verlobten Rudolf Marx, katholisch, aus Bonn, am 13. Juni 1939 im Ostseebad Ahlbeck Selbstmord verübte. In tiefster Verzweiflung über den Terror des NS-Staates, der mit den sogenannten Nürnberger Gesetzen 1935 Heirat und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und "Staatsangehörigen deutschen Blutes" unter Strafe gestellt hatte. "Rasseschande" hieß die Bezeichnung aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Das junge Paar sah keine gemeinsame Zukunft mehr. Der Abschiedsbrief ist nunmehr in der Dauerausstellung "Siegburg im Nationalsozialismus" zu sehen. Dazu Fotos von Ilse Fröhlich sowie die Zeitungsmeldung über den Selbstmord vom 13. Juni 1939. Auch auf der in der Museumsabteilung aufgestellten Gedenktafel der durch die Nazis in den Tod getriebenen Siegburger Juden erscheint der Name Ilse Fröhlich. Vater Michael Fröhlich besaß in der Kaiserstraße 20 ein Hutgeschäft, seine Geschäftsführerin Paula Degen übernahm später den Laden bis zum Jahr 1956. Zu ihrem Nachlass zählte der Abschiedsbrief, gelangte über deren Nichte an die Verwandte Ida Schulz. "Mord oder Selbstmord - Mädchen bei Ahlbeck tot aufgefunden" lautete am 13. Juni 1939 die Schlagzeile einer örtlichen Zeitung des Ostseebades. Weiter hieß es: "Am Ahlbecker Strande wurde heute morgen ein Mädchen erschossen in einem Strandkorb aufgefunden. Neben ihr lag ein Mann, der durch einen Schläfenschuss schwer verletzt war. Wie wir erfahren, handelt es sich um eine Ilse Fröhlich aus Siegburg, die mit ihrem Begleiter aus Richtung Swinemünde gekommen ist. In einem Strandkorb hat der Begleiter, dessen Personalien nicht feststehen, mit der Pistole einen Herz- und Kopfschuss auf das Mädchen abgegeben. Die Schüsse wirkten tödlich. Er selbst brachte sich dann einen Schläfenschuss bei und wurde mit schweren Verletzungen der ärztlichen Behandlung übergeben". Nach polizeilichen Unterlagen wurde das Paar um 5.30 Uhr morgens aufgefunden. Dreieinhalb Stunden später wurde auf dem Ahlbecker Postamt der an "M. Fröhlich, Siegburg b. Köln, Kaiserstr. 20" adressierte und vor der Tat bereits aufgegebene Brief abgestempelt. Sein Empfänger riss den Umschlag, wohl in Sorge oder gar Vorahnung, offenbar hastig auf. Der in sauberer, nach fast 70 Jahren erheblich verblasster Sütterlin-Schrift mit Bleistift beschriebene, zweifach gefaltete Din-A-4-Bogen - ein tief erschütterndes und bewegendes Abschiedsdokument: Sein Text: "Lieber Vater, liebe Degen! Wenn Ihr diesen Brief bekommt, dann haben Rudi und ich uns erschossen. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir zusammengekommen. Ich danke Euch von ganzem, ganzem Herzen für alles, was Ihr für mich getan habt, denn mehr konntet Ihr wirklich nicht tun u. ich bin Euch so dankbar, denn Ihr habt mich sorglos leben lassen. Es ist alles Schicksal u. Bestimmung. Sicher, ich hab Euch viel Kummer gemacht, aber ich konnte nicht gegen mein Herz an. Vergesst den Schmerz u. all das, was ich Euch antue u. denkt daran, dass wir jetzt glücklich sind. Meine letzte Bitte ist nur, dass ihr Rudi und mich zusammen in ein Grab legt, wir können ja hier beerdigt werden. Ich flehe Euch an, erfüllt mir diese Bitte, damit ich wenigstens im Tode Ruhe habe. Meine Sachen sind in Bad Heringsdorf in Pension Hubertus Zimmer 29. In Worten kann ich Euch meine Dankbarkeit für Eure Liebe nicht ausdrücken, denn Ihr habt ja mein Bestes gewollt. Ich grüße und küsse Euch zum letzten Mal. Eure Ilse." Die Erfüllung der letzten flehentlichen Bitte blieb Ilse Fröhlich verwehrt. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof an der Heinrichstraße in einem Einzelgrab bestattet. Vater Michael Fröhlich wurde am 24. Juli 1942 gegen Mittag in Minsk/Weissrussland zusammen mit anderen Juden aus Siegburg und Troisdorf von den Nazis erschossen und in einem Massengrab verscharrt.

"Siegburger Blätter" erinnern an Orte der Trauer

Wider das Vergessen


Das Bild zeigt die Gedenksteine
Siegburg. "Wider das Vergessen" lautet der Titel der neuen Ausgabe der "Siegburger Blätter". Zum 70. Jahrestag der Pogromnacht behandelt Stadtarchivarin Dr. Andrea Korte-Böger Siegburger "Orte der Trauer", Orte des Gedenkens an die vernichtete jüdische Gemeinde im Stadtbild Siegburgs. Der Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof, die Siegburger Synagoge und ihre Zerstörung, der Gedenkbrunnen am Brauhof und die "Stolperstein"-Aktion, mit der an ermordete Juden erinnert wird, sind einzelne Kapitel. Das Heft, Nummer 20, kostet 2 Euro und ist im Museum, bei der Tourist-Info und im Archiv des Rathauses erhältlich.

Vor 70 Jahren Reichspogromnacht

Gedenken am Brunnen


Siegburg. In diesem Jahr jähren sich die fürchterlichen Geschehnisse der Reichspogromnacht 1938 zum 70. Mal. Mit ihr begann die systematische Verfolgung und Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland und in Europa durch das nationalsozialistische Regime. Zerstörung von Geschäften und Wohnungen, Plünderungen, Diskriminierung, Gewalttätigkeiten bis hin zur Ermordung und Verschleppung von Juden in die Konzentrationslager. Der schrecklichen und unfassbaren Ereignisse ist am Sonntagabend ein Gedenken am Standort der ehemaligen Siegburger Synagoge am Brauhof gewidmet. Die Veranstaltung beginnt um 18 Uhr am Gedenkbrunnen.

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